Geschichte


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Prolog: West-Ost-Flucht

Der Mauerfall im Jahre 1989 öffnete eine neue Arena für Hausbesetzer*innen aus dem Berliner Westen, die sich auch mit ostdeutsche Besetzer*innen zusammentaten. Die staatliche Ordnungsmacht war quasi nicht präsent und die Besetzer*innen wollten den Abriss und die Privatisierung mehrerer tausende leerstehender Häuser verhindern, wie in Westberlin in der 1980er Jahren mit unzähligen Häusern bereits geschehen.

Zuerst wurden Häuser in Prenzlauer Berg und Mitte besetzt. In Friedrichshain begann die Besetzungswelle in der Schreinerstraße. Im Frühjahr 1990 folgte eine große Besetzungswelle in der Kreutzigerstraße, Jessnerstraße, Mainzerstraße, Rigaer Straße, Grünberger Straße, Liebigstraße und Scharnweberstraße. Dabei wurden sowohl einzelne Wohnungen als auch über 120 ganze Häuser besetzt, teils still, teils mit vorheriger Ankündigung.

In der Kreutzigerstraße entstand der legendäre „Pilatus“ als erste Besetzer*innen-Kneipe Ostberlins. In und um die Häuser wurden weitere Kneipen, VoKüs, Infoläden, Werkstätten, Heimkinos, Galerien, Proberäume, Abenteuerspielplätze und Treffpunkte eingerichtet, Straßenfeste wurden regelmäßig durchgeführt. Diese Errungenschaften mussten auch immer wieder gegen Nazis verteidigt werden, die in Lichtenberg sogar ihr eigenes Haus besetzt hatten. Die linken Hausbewohner*innen vernetzten sich in einem „Besetzerrat“ (B-Rat) zusammen, der später auch „Verhandlungsgremium“ genannt wurde. Von ihm ging auch die „BesetzerInnenzeitung“ (B.Z.) aus.

 

Räumungstragödien

Als die Ordnungsmacht sich ab dem 24. Juli 1990 doch wieder zur Durchsetzung der „Berliner Linie“ entschied und neubesetzte Häuser sofort räumte, spalteten sich unter den Bestzer*innen die Meinungen über die „richtige“ Vorgehensweise mit den bereits länger besetzten Häusern: Verteidigung der Hausbesetzung als politische Aktion oder Verhandlungen mit dem Senat eingehen, um die Häuser langfristig durch günstige Miet- und Kaufverträge zu sichern?

Nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 und die Übertragung der Polizeihoheit an Westberlin war dann endgültig klar: Der Staat will alle besetzen Häuser räumen. Spätestens am 14. November 1990, als er die zwölf Häuser in der Mainzer Straße von über 4000 Polizist*innen mit Räumpanzern, Wasserwerfern und Blendgranaten räumen ließ, wurde den Besetzer*innen auch klar, wie er das machen will: unter Anwendung brachialer Gewalt, die viele Besetzer*innen traumatisiert zurückließ.

 

Das erste Genossenschaftshaus

Die SOG gründete sich am 29. März 1996 um als Bewohner*innen-Kollektiv das Haus in der Kreutzigerstraße 23 und später weitere Häuser zu kaufen mit dem langfristigen Ziel, Wohnraum dem spekulativen Wohnungsmarkt zu entziehen. Das seit Anfang 1990 besetzte Haus gehörte zu jenen Ostberliner Altbauten, die „nach Enteignung und Verfolgung der rechtmäßigen EigentümerInnen durch die Faschisten“ bis 1990 von der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) betreut wurde. Gemäß Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR wurde diese „Zwangsarisierung“ rückgängig gemacht und die Immobilie an die eigentliche Erbin zurückgegeben. Anstatt aber die Immobilie zwangsräumen zu lassen, wie bei vielen der anderen besetzten Häuser geschehen, verkaufte die in Haifa lebende Erbin das Haus an die SOG.

 

Die SOG wächst

Bewohner*innen-Gruppen von weiteren besetzten Häusern konnten nun mit der SOG auf Grundlage des Genossenschaftsmodells dem Immobilienmarkt Restitutionshäuser entziehen. Sie mussten zuerst grünes Licht von den Verkäufer*innen und dann von den jeweiligen Kreditgeber*innen einholen, was teilweise lange Verhandlungen voraussetze. Genossenschaft hieß und heißt bis zum heutigen Tag, dass immer nur gemeinschaftlicher Besitz gebildet wird und dass die Verfügungsgewalt über die Wohnmöglichkeit nur solange besteht wie sie bewohnt bzw. genutzt wird. Wer auszieht gibt die Wohnung an die Genossenschaft zurück und tauscht sie gegen eine andere zum bewohnen und nutzen. Wer Austritt erhält nur seinen Genossenschaftsanteil zurück. Die Häuser bleiben auch nach Rückzahlung der Kredite im Besitz der Genossenschaft.

Die Besonderheit der SOG sind die Entscheidungsstrukturen der Wohngruppen in den Häusern, die autonom darüber bestimmen, wer bei ihnen mit einzieht. Auch bleibt es dem Plenum der Hausgemeinschaften überlassen, wie die Wohn- und Gemeinschaftsräume jeweils genutzt oder wie die Sanierungs- und Instandhaltungsmaßnahmen durchgeführt werden. So haben die Bewohner*innen den Umfang ihrer Miete in der Hand. Die ehemaligen Besetzer*innen bleiben konkret für „ihr Haus“ verantwortlich.

Günstige Kredite und ein staatliches Förderprogramm boten den neuen Hausbesitzer*innen die Möglichkeit, ihre Hausprojekte mit „baulicher Selbsthilfe“ zu sanieren. Alle Häuser der SOG wurden mit anteiliger Selbsthilfe durch die Bewohner*innen renoviert, die Häuser konnten nach eigenen Vorstellungen gestaltet werden. Eine Menge bunter Fassaden und fantastische Geländer sind so entstanden. Bei dem bis 2003 andauernde Förderprogramm wurde rund ein Drittel der Baukosten direkt mit Mitteln des Landes bezuschusst, ein weiteres Drittel über ein zunächst zinsfreies und später zinsgünstiges Darlehen der Investitionsbank Berlin gefördert. Das restliche Drittel musste das jeweilige Projekt durch Eigenleistungen aufbringen.

 

Strukturen sichern

Die inzwischen fünf Häuser der SOG in der Kreutzigerstraße 18/19, Kreutzigerstraße 23, Jessnerstraße 41, Rigaerstraße 83 und – erst seit kurzem – der Reichenberger Straße 63a werden immer noch durch die Bewohner*innen (die alle auch Genossenschaftsmitglieder sind) selbst verwaltet. Mietsteigerungen sind minimiert worden und es wurde ein Zeichen gegen die Vertreibung einkommensschwacher Bevölkerungsteile aus der Innenstadt gesetzt. In den vorhandenen Gewerbeflächen arbeiten bis heute eine Vielzahl von gemeinnützigen Vereinen und Initiativen.

Bei weit über 300 Mitgliedern mussten auch demokratische Entscheidungsstrukturen etabliert werden. Bis heute gibt es einmal im Monat ein Plenum das offen für alle Mitglieder ist, zwei Mal im Jahr gibt es eine Mitgliederversammlung bei der jedes Mitglied stimmberechtigt ist. Weitere Genossenschaftsorgane werden von den Mitgliedern gewählt: Ein Aufsichtsrat, ein Vorstand und ein Sozialrat.

Die Mitglieder diskutierten, ob eine bezahlte Verwaltungsstelle einrichtet werden soll oder die Unkosten und damit die Miete der Wohnräume so niedrig wie möglich gehalten werden sollen. Letztendlich entschied sich das Plenum für die Verwaltungsstelle und richtete ein kleines Genossenschaftsbüro in der Kreutzigerstraße 23 ein. Diese soll jedoch nur die Formalia der Genossenschaft verwalten, die einzelnen Häuser blieben weiterhin selbstverwaltet.

Wenn auch manch ein*e Besetzer*in vor der „bürgerlichen Wandlung“  und den „gefestigten Strukturen“ aus den Häusern geflohen ist, kann nicht geleugnet werden, dass die SOG langfristig  gemeinschaftliche und solidarische Wohnformen gesichert hat, die unter anderen Umständen nicht mehr möglich gewesen wären.